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Harmonium und Hauptwerk |
![]() Harmonium eines unbekannten Herstellers |
Das Harmonium (Reed Organ) - in seinen Grundzügen schon vor 1820 entstanden - hat eine längere Blütezeit hinter sich und die vorhandenen Instrumente werden meist als Kuriosität betrachtet. Sofern die reichhaltige Literatur nicht schon vom Komponisten gleichfalls für andere Instrumente bearbeitet wurde, überträgt man sie - soweit sie überhaupt als musikalisch wertvoll gilt - mit mehr oder weniger Adaptionsgeschick auf Klavier oder Orgel. Mit dem Verschwinden des Instrumentes selbst aus dem aktiven Musizieren ging die Spielkultur, als Miteinander von Spieltechnik und Klangästhetik, verloren: Das Treten beider Pedale für die Schöpfbälge - Windversorgung und zugleich sowohl subtile als auch agile Steuerung des Ausdrucks (Expressionsspiel), - farbenreicher Umgang mit den Streicher- und Bläserstimmen und Einsatz des Knieschwellers. Dennoch hat das Harmonium seinen eigenen Stellenwert, sogar für einige Jahrzehnte einen erkennbaren Einfluss auf Kompositionen der Spätromantik und - vor allem in seiner Ausprägung als Kunstharmonium - des Impressionismus sowie darüber hinaus. Wenn es außerhalb Europas auch oft als Begleitinstrument für den Gemeindegesang eingesetzt wurde, so ist es keinesfalls etwa ein "Orgel für das Zimmer" und auch kein Art Klavier, dessen Töne eben nicht abklingen, sondern so lange ertönen, wie die Tasten gedrückt werden. Die ausschließlich aus durchschlagenden Zungen bestehende Stimmen unterscheiden sich von denen der Orgel durch das Fehlen jeglicher resonanzverstärkender Becher, was dem Klang einen intimen Charakter gibt. Der kann indessen schnell eintönig werden, wenn man der Musik nicht durch entprechende Registerwechsel angemessene, wechselnde Farben verleiht und ein lebendiges Espressivo hinzukommt. Weitere Besonderheiten der Zungen: Sie verä;ndern ihre Tonhöhe auch bei wechselndem Winddruck nicht; ihre Obertöne, Kombinationstöne und Schwebungen sind zudem leicht wahrzunehmen. Überhaupt kommt der Registrierung eine primäre Rolle bei der Interpretation von Werken für das Harmonium zu. Manche Musikforscher meinen, dass gerade beim Harmonium Notentext und Registrierung eine Symbiose bilden. Daher hat man meist bei einer Komposition die Registrierung zusammen mit dem Notentext festgelegt - eine Tatsache, die sich anhand originaler Noten für das Harmonium nachprüfen lässt. Dies brachte freilich erhebliche Einschränkungen mit sich; so ist das Repertoire trotz eines möglichen zeitlosen Wertes doch an eine bestimmte Bauart, Marke oder Art der Windversorgung (Saugluft oder Druckwind) gebunden, wollte man die Intentionen des Komponisten genauestens nachvollziehen. |
Über welche auch heute noch gültige Ausdrucksfähigkeit ein gut gespieltes Harmonium verfügen kann, demonstrieren CDs von Johann Matthias Michel, Joris Verdin oder live gespielte mp3-Clips der japanischen Harmonium-Virtuosin Ryoku Morooka auf den Webseiten von Ulrich Averesch. Zum Beispiel wartet die Caprice von Bizet (Track 01.mp3) mit manchen hörenswerten Details auf: Überlagerte Perkussion verändert den Tonansatz und die Expression erlaubt (besonders im Nachspiel) ein eindrucksvolles Sforzato. Das Stück endet mit einem verebbenden Expression-Tremolo (mit abgeschaltetem Magazinbalg), das dem Ausdruck ähnelt, wie ihn Richard Galliano mit kleinsten Balgbewegungen den Tönen seines Knopfakkordeons zu verleihen versteht - verständlich, da ja Harmonium und Akkordeon-Register gemeinsame Wurzeln haben.
- Perkussion mit zusätzlichem Zungenanschlag durch Hämmer (z. B. für Harfeneffekte),
- das harmoniumtypische Tremolo, von dem der Orgel stark unterschiedlich,
- Expression und Kniehebel (mit lautstärkeabhängiger Obertondämpfung per Processing),
- das "Prolongement" - auch Tastenfessel genannt - als eigentümliche Vorrichtung zum Liegenlassen von Tönen/Akkorden und
- Métaphone-Klappen zur Klangabdunkelung (ebenfalls vom PC-Prozessor gerechnet).
Vergessen wir nicht, dass Hauptwerk beliebige Registerkombinationen speichern und auf Knopfdruck (Setzer) abrufen oder per Vor/Rückwärtsschaltung "sequenzieren" kann. Solche modernen Spielhilfen lassen sich natürlich auch beim Harmonium einsetzen. Möglicherweise kann Hauptwerk das Seine dazu beitragen, neue Freunde für dieses Instrument zu gewinnnen?
In einem gehaltenen Ton auf diese Weise Licht- und Schatten zu verteilen ist auf dem Klavier unmöglich, und keine Orgel kann auf Schwelleffekte so direkt reagieren! Warum diese Fertigkeiten nicht mit den Mitteln einer außerordentlich leistungsfähigen Software wie Hauptwerk selbst erproben? Nicht ohne Grund gibt es viele Opern von Richard Wagner sowie Symphonien von Mahler und Bruckner, deren markante Orchesterpassagen von Spezialisten wie z. B. Sigfrid Karg-Elert für das Harmonium bearbeitet wurden. Daneben kann sich der Harmonium-Freund aus einer umfangreichen Liste von originalen Werken bedienen.
Doch auch das Gegenteil ist der Fall: Wer einen Bach-Choral 1:1 mit einer einzigen Registrierung auf das Harmonium überträgt und ihn mit einer orgelgemäßen, statischen Registrierung spielt, dürfte schnell feststellen, dass dabei musikalisch nicht viel zu gewinnen ist. Es sei denn, man benötigt die Untermalung für eine Gottesdienst-Szene in einer afrikanischen Missionarsstation. Das Harmonium lebt eben von wechselnden Zungenklängen in mehreren Fußlagen und Expressivität durch unmittelbare Windsteuerung, ohne dass das orgeltypische strenge Legato vernachlässigt wird. Nebenbei bemerkt wird gerade diese Tugend bei Dateien, die mit dem MIDI-Sequenzer programmiert wurden leider meist zugunsten eines uniformen zeitlichen Abfolgerasters vernachlässigt.
Diese Betrachtungen sollten uns ermutigen, Repertoire für das Harmonium mit Hilfe von Hauptwerk wieder zu beleben oder beliebige andere Literatur zu spielen, ohne wohlgemerkt auf das reale Vorbild zurückgreifen zu müssen. Der für kleine und kleinste Auditorien bestimmte zurückhaltende Klang des Harmoniums eignet sich ideal für das Musizieren in den eigenen vier Wänden, zumal die aktuelle Version 1.2 von Hauptwerk einen unkomplizierten Zugang bietet. Im einfachsten Fall genügt ein einziges Manual (Keyboard), wobei die Registrierung auf dem Bildschirm erfolgen kann.
Neben einem realen Harmoniumtyp als klassischem "Vierspielinstrument" mit vier geteilten Registern und ebenfalls geteiltem Manual gab es auch Versionen mit zwei Manualen und sogar Pedal, wenn auch vielleicht kaum in Deutschland. Will man ein solches Modell nachbilden, dann gehört dazu ein zweimanualiger Spieltisch mit Registerschaltern, kombiniert mit Schwellpedal(en), also eine Zusammenstellung, die für die meisten HW-Orgeln sowieso zweckmäßig ist. Auf eine Pedalklaviatur kann man verzichten, da sie im Widerspruch zur Spielpraxis steht, bei der beide Füße mit der Bewegung der Schöpfbälge für Spielwind und Ausdruck beschäftigt sind. Generell lässt sich durch Modifikationen der Definitionsdatei in HW auch ein sehr einfach ausgestattetes Vorbildinstrument mit den meisten zu seiner Zeit gebräuchlichen Spielhilfen, vor allem einem Schwellpedal ausstatten. Ob sich dieses dann wirklich dazu eignet, um ein kraftvolles und schnelles Espressivo zu erzeugen, wäre allerdings erst noch herauszufinden.
Nach dem Laden eines Harmonium Sample-Sets kann man heute schon in eine interessante Klangwelt einsteigen, die durchaus ihre Herausforderungen abseits üblicher Repertoire-Pfade bereit hält. Da die Anzahl "echter", d. h. nicht abgeleiteter Register gegenüber einer Orgel meist geringer ist, bleiben auch die Ansprüche an den Arbeitsspeicher gering - eine gute Voraussetzung für den Einstieg.
Der Einfallsreichtum der im 19. Jahrhundert untereinander heftig wetteifernden Harmoniumbauer war groß. Manche Einrichtungen wie Koppeln in Einfachausführung oder als Superoktavkoppel sind in HW1.22 bereits anzulegen. Andere Features, mit denen man besonders das sog. Kunstharmonium ausstattete, sind mit moderner Rechnertechnik und den Features von HW 2.10 ebenfalls grundsätzlich umzusetzen, wenn auch noch nicht Alles implementiert ist: